<< zurück
Michael Dreyer Abschaffung der Prügelsprache
Eröffnung / Opening Samstag, 24. April um 18.00 Uhr / Saturday, April 24 at 6 pm
Ausstellungsdauer / Duration of the exhibition Samstag 24. April - Freitag 28. Mai 2004
im Rahmen von aktuelle kunst in graz - 2004
'Abschaffung von Prügelsprache' ist eine Untersuchung von Desastern der Kommunikation. Das Wort 'Prügelsprache' bezeichnet dabei einen prekären Typus Sprechakt, der in zwei Formen vorkommt - das Reden über eine Person in deren Anwesenheit, gerichtet an eine dritte Person oder an eine Kamera (A), und das Reden über sich selbst als über einen Dritten (B). Die Konstellation von Beteiligten ist hierbei grundsätzlich triadisch. Selbst wenn lediglich zwei Leute beteiligt sind (B), geht es um ein Sprechen, das sich real oder imaginär VOR jemandem ereignet (Kafka) - beziehungsweise um ein Sprechen, das sich in den Worten eines Dritten, wenn auch abwesenden Dritten vollzieht. Ob als patronisierende Redeweise in der Öffentlichkeit oder als Effekt einer 'Identifikation mit dem Angreifer' (Anna Freud), es ist nicht nur a matter of taste, ob der Beiwohner solche Momente als unzumutbare Indiskretion oder als besondere Schonungslosigkeit und 'Aufrichtigkeit' (Lionell Trilling) versteht. Irgendetwas an der Sache riecht nach Unterdrückung, Entfremdung.
Der historische Wandel eines solchen 'prekären Sprechaktes' vom erzieherischen Mittel zum Elexier der Selbstkonzeption vollzieht sich mit dem Bruch zwischen der Disziplinar- und der Kontrollgesellschaft (Foucault/Deleuze). Die antiken Rituale des öffentlichen Lobes und Tadels sowie das Ritual der gehorsamen Reue und der auswendigelernten Selbstbezichtigung werden zwar archaisierend wieder aufgeführt ("Superstar"-Sendungen, Gerichtsaal-Shows), sind aber soziokulturell internalisiert: sie tauchen als sprachliche Rollenmodelle schon 'mit der Muttermilch', in der Vorstellung von Kindern als Leistungsträger auf.
Wenn das patronisierende Reden seinen Ursprungsort am Familientisch hat, dann geht der sich selbst patronisierende Sprechakt zurück auf etwas Imaginäres, also auf Instanzen wie die psychotherapeutische Sitzung und das Fernsehen. Was man aus dem Fernsehen kennt - ein Sportler diagnostiziert seinen mentalen Zustand in den Worten seines Trainers, ein Delinquent charakterisiert sich in den Worten seines Psychologen - kommt in der Alltagssprache bereits (wenn auch in rudimentärer Form) vor, etwa wenn jemand mit dem Satz anfängt: "Ich bin ein Mensch, der..." und sich dann mit Zuschreibungen identifiziert, die er oder sie etwa von den Eltern übernommen hat. Diese Momente werden vom Zuhörer unterschiedlich empfunden: beim Fernsehen werden sie hingenommen bzw. voyeuristisch und 'interpassiv' (Robert Pfaller) genossen oder als unerträgliche Zumutung, als 'Terror der Intimität' (Richard Sennet) abgewehrt.
"Das kann man vom Herrn Sohn natürlich nicht haben", sagt der Vater zur Mutter im Beisein des Sohnes (etwas so zu machen, wie der Vater es will), um dem Sohn Franz mit diesem Sprechakt zu sagen, dass er "nicht einmal des bösen Ansprechens würdig" und damit zur Passivität verdammt ist. Aber Kafka hat mitgeschrieben, sein Passivsein ist renitent; und ist es nicht eine besondere Form von Interpassivität, wenn dieser Brief den Adressaten nie erreichen soll?
Mit der Ausstellung 'Abschaffung von Prügelsprache' möchte ich eine bestimmte Art Zuschauer konstruieren, der Teil eines triadischen Entwurfs vom Medium/der Medien an sich ist: ein Zuhörer, der sich beobachtet und beobachtet fühlt. Das Projekt ist andereseits auch eine Untersuchung der Kunstgattung Portrait und will Formen von bedrohlicher Passivität gegenüber sprachlichen Gewaltakten und Fürsorglichkeiten rekonstruieren (eine Form der Passivität, die es so nur theoretisch gegeben hat). Geplant ist auch eine Publikation mit Beiträgen von Michael Dreyer, Dietmar Dath, Helmut Draxler, Robert Pfaller, Wilhelm Beermann. Die Veröffentlichung soll die Ausstellung im Grazer Kunstverein dokumentieren und Beiträge enthalten, in denen das Phänomen 'prekären Sprechens' erörtert und in kultursoziologischer (Draxler, Dath), sprachphilosophischer (Beermann), medientheoretischer (Pfaller) und ästhetischer (Dreyer) Hinsicht erörtert und bestimmt wird. Appendix: Es gibt bestimmte Verhältnisse, die es selbstverständlich erscheinen lassen, dass über eine anwesende Person gesprochen wird, die hierbei zuhört. Historisch gesehen werden solche Situationen von Institutionen wie dem Gericht, der Schule, der Ehe, der Klinik, dem Gefängnis, der psychopathologischen Vorlesung mit Vorführung von Patienten, der Aktsitzung in der Kunstakademie erzeugt. In der Kindheit lernt man, Situationen zu ertragen, in denen über einen geredet wird. Familie und Schule sind Orte, an denen man die eigene Verdinglichung als das Selbstverständlichste der Welt erleben darf. Wer hat nicht erfahren, am Familientisch vor anderen, Geschwistern, Verwandten, Besuchern, als Fall aufgerollt zu werden, ohne selbst Stellung nehmen zu dürfen oder zu wollen? Ein auf diesem Weg zustande gekommenes, also indirektes Lob war manchmal viel schwerer auszuhalten als ein direkter Tadel. Die Gebanntheit desjenigen, vom dem dabei die Rede ist, drückt die Unerschütterbarkeit und die konstitutive Rolle elterlicher Autorität am besten aus - ein Machtverhältnis, aus dem man nie entlassen wird. Eltern haben das größte Recht, über einen zu reden. Es ist aber ein erheblicher Unterschied, ob man innerhalb gegebener Regeln und Usancen das Wort an jemand Dritten richtet, um über eine anwesende Person zu sprechen, etwa in einer Verhandlung, oder ob man im privaten oder medialen Rahmen willkürlich dazu übergeht, jemand Anwesenden dadurch 'auszustellen', indem man über sie oder ihn als Person, über deren Eigenschaften, Denken oder deren Erlebnisse spricht. In solchen Fällen fragt sich der Adressat vielleicht, ob gegebenfalls eine Absprache besteht, das sagen zu dürfen, oder ob sich der Sprecher des Einverständisses des Betroffenen aus irgendeinem Grund sicher sein kann. Michael Dreyer Stuttgart, Oktober 2003
<< zurück
|