Grazer Kunstverein

 

19.04. - 16.06.2007 | ___fabrics interseason. Döbling Reform: panier und biobourgeoisie

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___fabrics interseason (Wally Salner & Johannes Schweiger)
Döbling Reform: panier und biobourgeoisie

 

Ausstellungsdauer / Duration of the exhibition
19. April bis 16. Juni 2007 / April 19 until June 16, 2007

Spinden begegnest Du in Umkleiden, Sportvereinen, Fabriken, beim Bundesheer oder auf dem Campus. Der Spind ist, frei mit Max Weber, eine Schwelle zwischen Haushalt und Betrieb. Modellhaft betrachtet, bildet er eine Schnittstelle zwischen den in der bürgerlichen Gesellschaft als Antipoden bestimmten Bereichen privat und öffentlich. Durch das Scharnier Spind bewegt sich das Subjekt von einem Bereich in den anderen, der Logik folgend, die die Dualität des Sozialen zugleich etabliert und fordert.

Fotos und Zeitungsausschnitte auf der Innenseite des Spindes können Verweise auf private Vorlieben und familiäre Bindungen der BenutzerInnen geben. Privates auf der Außenseite ist eher unüblich und wird parallel zum Dienstplan der Putzfirma entfernt: was Sie in Ihrem Spind treiben, ist uns egal, außerhalb Ihres Spindes nicht. Die Positionierung des Spindes in Institutionen und Vereinen scheint dieses Verhältnis zu spiegeln. Meist gleichförmig entlang einer Wand, platz sparend in Reihe gestellt, lässt sich seine Existenz in den Seitenarmen und -korridoren der Institution lokalisieren. So bekommt er jene periphere Position zugewiesen, die auch das Private im Moment seines Öffentlich-Seins annehmen soll. Seine räumliche Aufteilung spiegelt bereits die Art der Lokalisierung des Ersteren im Letzteren wieder: Raum, den der Spind für persönliche Utensilien vordefiniert, ist auf das notwendige Minimum reduziert und funktionalisiert.

Wie verhält sich die Positionierung der für die Ausstellung hergestellten und bearbeiteten Spinde, die zusammen von ___fabrics interseason und Robert Gassner unter dem Titel "SCHRÄNKE" entwickelt wurden, zu ihrer eingangs  charakterisierten Zeichenhaftigkeit? Inwiefern hat die Zusammenarbeit mit dem Architekten Gassner, der sich mit der Erosion von Benutzungsformen beschäftigt, zu einer Befragung der repräsentierten Gegensätzlichkeit zwischen privater und öffentlicher Sphäre geführt?

Anfangs fällt auf, dass die Spinde nicht unauffällig und funktional gestellt sind. Gleich im Eingangsbereich des Kunstvereins, einem schmalen Korridor, wird von fünf Spinden der Raum besetzt. Ein weiterer findet sich kurz darauf hinter einem Durchgang. Die Spinde sind unterschiedlich im Raum gestreut, einige schräg verschoben. Auffallend ist ihre formale Individualisierung. Ein Merkmal stellt die unterschiedliche Lackierung dar. Jeder Spind trägt seine eigene Farbe. Das detailliert gehaltene Materialblatt informiert, dass es sich um die RAL-Normfarben Purpurviolett, Ultramarinblau, Tannengrün, Sepiabraun, Hellelfenbein und Schwefelgelb handelt.

Weitere Unterschiede können bei der Wahl der Untergestelle oder den verschiedenen Schlüsselanhängern bemerkt werden. Letztere sind teilweise mit glänzend lackiertem Treibholz ausgestattet, das Bissspuren von Bibern trägt. Bei zwei Spinden sind die aus Feinblech geschweißten Türen mit passgenauen, aber unterschiedlich furnierten Holztüren vergetauscht. An dem ulramarinblauen Schrank ist eine Tür in Korkfurnier montiert, das an den Kanten zusätzlich mit Fichtenanleimern bestückt ist, am sepiabraunen Schrank eine rundum in Olivenholz furnierte Tür. Das Verfahren erinnert an die Serie "Pimp My Ride", in der Rapper Xzibit mit seiner Crew einem Ferrari schon mal Flügeltüren aus Tropen-Edelholz verpasst. Während das Olivenholzfurnier dem braunen Schrank eine gewollt aufgemotzte Erscheinung gibt, etwas im Bereich halbseiden eingerichtetes Salonzimmer, lässt die Kombination Korkfurnier-Ultramarinblau Reminiszenzen an Urlaub zu. Aber diese Eindrücke sind subjektiv. Jede und jeder wird die Attribute der modifizierten Spinde anders deuten. Wichtig ist aber, dass sie ihre qualitative Eindeutigkeit und Zugehörigkeit verloren haben.

Auf den zweiten Blick sind Eingriffe in das Innenleben der Spinde zu bemerken. Im Spind mit der Korkfurniertür finden sich drei aus Liegestuhlmaterialien genähte Aufbewahrungstaschen. Im Spind mit der Olivenholztür ist ein exklusives System herausziehbarer Kleiderbügel unter einem ebenfalls mit Olive furniertem Hutboden installiert. Der purpurviolette Spind ist mit Spiegeln ausgekleidet. Anstatt Hutböden schaukeln 4 aus baumwoll-satin maßgefertigte Regalnetze luftig im vervielfachten Raum. Ein Boudoir für nomadische Existenzen? Assoziationen eines Vorzimmers ruft der tannengrüne Schrank wach. An dessen Bodenmaße findet sich eine Fußmatte angepasst, die laut Materialliste als "Kokosbürste natur 24mm" identifiziert werden kann und angenehm durch einen Fachboden aus bronze getöntem Glas ergänzt ist.

Die Behandlung der Spinde lässt zwei Denkrichtungen zu:
Zum einen wird ihre Doppelfunktion als Platzhalter sowie Platzanweiser des Privaten betont. Man kann sich ein Subjekt vorstellen, das sich eben so exzessiv wie kompensatorisch seine Welt in der dafür vorgegebenen Nische ausstattet. Diesem Blickwinkel entspricht vielleicht das Paradox von der Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen. Denn rein produktionsästhetisch betrachtet können die genau komponierten Eingriffe Parallelen zur Pedanterie einer säuberlich aufgestellten Reihe von Gartenzwergen aufweisen oder eben an den ausklappbaren Billardtisch im Kofferraum des Fort Escort bei Pimp My Ride: handwerklich geschickte Hinzufügungen, die zum größten Glücksmoment in der Einsamkeit einer auf Ausdifferenzierung angelegten Konsumerbiografie werden können.

Zum anderen kann man aber auch sehen, dass über die Arbeit an der Figur des Spindes die im bürgerlichen Bewusstsein verankerte Schizophrenie angegriffen wird. Jeder Bastelei kann ein subversives Moment zu eigen sein. Die Frage, wie man sich zu den Oberflächen und ihren Beschaffenheiten verhält, ist auch eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Bewusstsein, das über sie vermittelt wird. Es ist das Wesen von Kunst, durch formale Eingriffe und Setzungen Standards und Codes zu verschieben und die Realität, die sie repräsentieren, sowohl in ein Spiel der kritischen Reflexion zu importieren, als auch Vorstellungen darüber zu öffnen, wie diese sonst noch aussehen könnte.

Hier besteht ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Praxisbereichen von ___fabrics interseason, die zugleich Künstlerinnen und Modelabel sind.

Während die Arbeit im Bereich Mode vorrangig auf Kleidung und die gedruckten oder als Veranstaltungen inszenierten unterschiedlichen Formate der Vermittlung und Bewerbung der Kollektionen ausgerichtet ist, verweisen die im Kunstkontext lokalisierbaren Arbeiten stark auf den Bereich Interieur und die ihm angeschlossenen Kontexte Design, Möblierung und Innenarchitektur.

Beide, Mode und Interieur, bilden "Umgebungen", über die sich im Alltag Konzepte von Leben und von unterschiedlichen Möglichkeiten des Handelns kommunizieren. Beide stellen Auseinandersetzungsgebiete dar, die der Konstruktion von Identität sowohl Kontexte, Werkzeuge und Mittel bieten, als diese auch in vorkodierte und von unterschiedlichen Interessen determinierte Bahnen lenken können.

Ein Hinweis auf diesen Zusammenhang gibt der Flickenteppich "surface: tapisserie N°1, schwarz", der sich teils unter, teils zwischen den Spinden durch den Korridor windet und noch die Hälfte des zweiten Ausstellungsraums bespielt: er ist aus zahlreichen Stoffresten gefertigt, die während der textilen Produktionen angefallen sind. Nach Farben sortiert, wurden diese einer Teppichweberei übergeben. Muster und Rythmus der Farbtöne sind direkt durch die Menge und Art der verwendeten "fabrics"-Überbleibsel informiert. Der Teppich bildet ein Moment des Interieurs, das zugleich als direkte Übersetzung der Arbeit im Modebereich gelesen werden kann und das in der Ausstellung im doppelten Sinne des Wortes den Untergrund bildet, auf dem die „SCHRÄNKE“ stehen.

In beiden Feldern, Mode und Kunst, lassen sich pragmatische Analogien zwischen den gewählten künstlerischen Strategien von ___fabrics interseason finden.

Sowohl in Bezug auf Mode als auch in Bezug auf Interieur führen ihre künstlerischen Untersuchungen zu Praktiken wie Falten, Zerlegen, Neu-Zusammensetzen, kritisches Dekor, Konfrontation gegensätzlicher Materialformen, deren nicht sinngemäße Anwendung (im Sinne der Hersteller) oder Aus- und Umstülpen. Zum Beispiel die Arbeit "Zimmerbrunnen Wellness" (2004): Es handelt sich um ein rechteckiges, mit Fliesen aus dem Sanitärbereich verkleidetes Becken. In dessen Mitte befindet sich auf einem ebenfalls gefliesten Quader ein kreisrunder Ablauf wie bei herkömmlichen Waschbecken. Nur dass der Ablauf in diesem Fall als Wasseraustrittsöffnung des solchermaßen zum Zimmerbrunnen umkonstruierten "Nasszellen"-Instrumentariums dient. Vergleichbar wäre im Bereich Mode zum Beispiel die von ___fabrics interseason verwendete Taschenausstülpung. Sie macht ein funktionales, normalerweise versteckt liegendes Moment von Kleidung sichtbar. In der physischen Umkehrung (Stülpung) wandelt sich zugleich dessen praktische Funktion in eine Ästhetische. Im Bereich Mode können formale Umkehrungen wie Stülpen, das Überbetonen von Merkmalen, der Wandel von Funktion in Nichtfunktion, der Umgang mit Accessoire und andere formale Praktiken zugleich als Spiel mit geschlechtsspezifischen Merkmalen und deren Umkehrungen, Erosionen lesbar und kommuniziert werden.

Diese Politik der eben nicht nur formalen Eingriffe, Verschiebungen und Hinzufügungen – im Zusammenhang des "Pimping" zu sehen – korrespondiert strategisch mit einer in der Ausstellung installierten Tapete („Paradies, schwarz", ca. 1950) des Architekten, österreichischen Werkbundmitbegründers und späteren Vertreters des „Akzidentismus", Josef Frank.

Akzidentismus bedeutet zum Beispiel die Ergänzung "falscher" Planungsstände. Diese Methode geht von einem permanenten Reagieren auf gegebene Kontexte aus. Entgegen einem sich wild gebärdenden Avantgardismus ist Akzidentismus ein vielschichtiger, offener Bau- und Planungsprozess, der situatives Handeln ermöglicht und Veränderungen sowie Richtungswechsel durch Hinzufügungen erreicht, anstatt komplett neu zu „schaffen“. Damit steht Akzidentismus in direktem Zusammenhang mit den auf die Spinde angewendeten künstlerischen Vorgehensweisen. Die Tapete ist selbst zur Ergänzungsfläche von Hinzufügungen geworden. Kaum merklich sind einzelne Motive des an Naturstilisierungen bilderreichen Dekors von ___fabrics interseason zusätzlich in das vorhandene Muster collagiert worden. Ein minimaler Eingriff, der die Serialität des Musters als Vorbedingung industrieller Tapetenproduktion ein Stück zurücknimmt.

Auf der Einladungskarte zur Ausstellung spielen ___fabrics interseason auf Adolf Loos an: "folglich: das ornament bei loos ist die grammatik der panier, die panade des wiener schnitzels - mehl, eier, semmelbrösel." Der Architekt und Architekturkritiker Loos ist für seine scharfe Polemik gegen die Vermischung von Kunst und Architektur bekannt. In seinem Text "Wohnen verboten!" [01] muss sich ein reicher Bauherr vom Architekten dafür kritisieren lassen, dass er die Hausschuhe im falschen Zimmer trägt: "Aber Hr. Architekt! Haben Sie schon vergessen? Die Schuhe haben Sie ja selbst gezeichnet!" - "Gewiss", donnerte der Architekt, "aber für das Schlafzimmer. Sie zerreißen mit diesen zwei unmöglichen Farbflecken die ganze Stimmung." Die an dem Text vorgeführte Kritik von Loos weist in die Richtung, dass Ideen vom richtigen Leben und Wohnen etwas Zwanghaftes bekommen, wenn sie der Sphäre der Ästhetisierung zum Opfer fallen, wenn das Gebot des "chic"-Seins sämtliche anderen Bedürfnisse diktiert.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion lässt sich ein weiterer Raum der Ausstellung betrachten. Zwei Reihen von etwa 120 cm hohen Bilderrahmen sind mit den Unterkanten auf Bodenniveau entlang der Wände montiert. Die als "MODULE" bezeichneten Objekte enthalten in Madagaskar handgewebte Raffia-Flächen in unterschiedlichen Farb- und Oberflächenbehandlungen. Jeweils dem Verlauf der Wände folgend schlagen sie in den Ecken um 90 Grad ein und beschreiben so zwei unterschiedlich lange L-Formen, die einen Raum in Form eines offenen Rechtecks andeuten. Eine von der Decke und offensichtlich in Bezug auf das so entstandene Volumen abgehängte Glühbirne verstärkt den Aspekt des imaginär markierten Raums. Wegen der niedrigen Anbringung der Rahmen lässt sich eine umlaufende Wandtäfelung assoziieren, wie sie in Restaurants oder Esszimmern meist das untere Drittel der Wände bedecken. Diese ihrer Installation geschuldete Inhaltlichkeit der „MODULE“ steht in einer spannungsvollen Ambivalenz zu deren Lesbarkeit als autonome Farbflächen-Malereien, die den oben mit Loos angeführten Konflikt zwischen Architektur und Kunst, Funktion und Ornament, nochmals zuspitzt.

Mit den Farben Palisander, Eichenbraun, Reingelb, einem bläulichem Violett, Reinblau, Brillantschwarz, Rubinrot, Rosa, Reinweiss und Moosgrün wird die durch die Spinde vorgegebene Farbpalette in den „MODULEN“ weiter dekliniert. Entweder handgebeizt oder handkoloriert, anschließend je nach Methode poliert oder lackiert, führen die "Module" dabei noch unterschiedliche Farberscheinungen und -wirkungen vor, die in ihrer exzentrisch-oberflächenverliebten Materialpräzision an Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe erinnern und sich so selbst in einen Bereich der Ambivalenzen modernistischer Avantgarde bewegen, die neben ihren proklamierten Purismen fast immer obsessiv-subjektive und exzentrisch-ästhetizistische Aspekte inkorporieren.

Die „MODULE“ sind exklusiv und auf Bestellung gefertigte Stücke, Auftragsarbeiten. Als eindeutig selbst "gebastelte" Raumverbesserungsmaßnahmen bilden ihnen gegenüber die als "Shades" bezeichneten, etwa 170 Zentimeter breiten und 165 Zentimeter hohen Holz-Glas Konstruktionen, eine strategische Alternative. In einem Profilholzrahmen aus Fichte sind auf den Innenseiten der horizontal liegenden Staffeln jeweils zwei Aluschienen parallel nebeneinander laufend angebracht. In diese sind drei bis vier, auf etwa 30 Zentimeter Breite zugeschnittene Fensterglaslamellen mit einer Stärke von 3 Millimetern eingesetzt. Die senkrechten Lamellen können durch die beiden Schienen in unterschiedliche Überlappungsverhältnisse zueinander geschoben werden. Vor den Fenstern aufgestellt, entstehen durch die mit semitransparenten Fensterglasfarben verlaufend in grün, blau, violett, gelb und rosa bemalten Scheiben unterschiedliche Farb- und Lichtmischungen. Die Lasurartigen Farbtöne korrespondieren wiederum mit der durch die Spinde und die "Module" variierten Farbpalette, und führen diese jetzt als durchscheinende, fragile Oberflächen vor. Deren spielerischer Charakter scheint mit dem do-it-yourself-Effekt der grob zusammengebauten, zusätzlich noch durch einfache Holzböcke auf Fensterniveau gebrachten "Shades" zu korrespondieren. Mit geringen Mitteln führen sie vor, wie man Hochglanzoberflächen für den Hausgebrauch herstellen kann. Sie zollen dem Umstand Tribut, "... dass es der soziale Wohnungsbau ist, der den meisten glamourösen Existenzen unser Großstädte ein Zuhause gibt. Die Arbeiten von ___fabrics interseason schlagen ein Modell, einen Entwurf für ein gutes Leben auf der Schwelle zum Politischen und auf der Grenze zum Unökonomischen vor. Dieses Leben entsteht in allen Fällen aus einem unsicheren Balanceakt (zwischen dem Bürgerlichen und Nichtbürgerlichen, öffentlicher Politik und persönlicher Ethik).“[02]

Wer sind die Subjekte, die sich in diesem Balanceakt befinden? Liefert die Skulptur, die von Drahtseilen gehalten in einer Raumecke von der Decke hängt, einen Hinweis auf diese Frage? Sie trägt den Titel: „Akropolis, modern vögeln - getrennte Schlafzimmer". Zum einen erinnert sie in der Art der Anbringung an ein Hochbett. Dieser Umstand wird durch die Referenz "Schlafzimmer" im Titel verstärkt. Soll es Unterschlupf und Liebesort für eine (junge) Boheme bieten? Zum anderen ist es unmöglich, auf diesem Bett platz zu nehmen. Es steht schon voll. Mit einem modellartigen Konstrukt, gebastelt aus zahllosen, bunt bemalten und unterschiedlich proportionierten Karton-Rollen. Die Rollen sind senkrecht, wie Säulen, zwischen Eierkartonpaletten montiert, die sie als eine Art Dach tragen. Eine Konstruktion, die an Bilder der ruinösen Akropolis erinnert - oder an ein rasch aufgeräumtes Studentenzimmer, in dem alles auf dem Hochbett abgestellt wurde. Die Arbeit vermischt an der Oberfläche eine Bastelästhetik, die auf billiges, im eigenen Haushalt als Müll entstandenes Material setzt (abgerollte Klopapier- und Küchenrollen etc.) mit einem prominenten Archetypus der Wiege moderner abendländischer bürgerlicher Kultur. Wer auf ihm liegen will, muß entweder die Eigenschaften eines Fakirs haben, und die wie auf einem Nagelbrett emporragenden Formen ignorieren können, oder die Flexibilität eines Entfesselungskünstlers, der sich geschickt wie eine Schlange durch sie hindurch zu winden weiss. Die Akropolis, auch als soziokulturelle Bastelei, bildet einen unbequemen Schlafplatz. Sie scheint so die Widersprüchlichkeit zwischen Tradition und neuen Lebensformen zu verkörpern, und zugleich deren unausweichliches Aufeinander-Bezogen-Sein zu problematisieren. In ihrem Text zur Ausstellung spielen ___fabrics auf die "bobo" an. Die Bezeichnung bobo steht für "bohemian-bourgeoise" und trägt dem Umstand Rechnung, dass die in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts mit Boheme bezeichneten und sich selbst bezeichnenden sozialen Gruppen, die einen Grundbaustein für den Diskurs markieren, den wir mit Modernismus bezeichnen, meist selber aus dem Schoß der Bourgeoisie stammten. Die Frage ist, ob man sich wirklich so einfach neu definieren kann? Inwiefern bleiben nicht viele sowohl ästhetische als auch politische Versuche, ein neues Leben zu beginnen, an der eigenen Herkunft und den mit ihr erlernten Weltbildern hängen? Wladimir Majakowski ging den Versuch ein: 2 Männer und eine Frau leben in einer Beziehung und in einer gemeinsamen Wohnung zusammen. Der Versuch scheitert am Bewußtsein der Protagonisten, und endet mit "getrennten Schlafzimmern". So zeigt die Arbeit etwas von dem Konflikt, dass Dissidenz immer in einem bestimmten Kontext entsteht, der sie überhaupt erst hervorbringt, und das dieser Kontext nicht einfach ohne Schwierigkeiten verlassen werden kann. Glücklicherweise liegt unter der Skulptur noch ein weiterer Flickenteppich. Er ist so aufgerollt, dass man den Rücken anlehen kann und die Szenerie der Ausstellung, unterm Bett sitzend, nun aus umgekehrter Richtung überblickt (die Akropolis-Skulptur außerhalb des eigenen Blickfeldes). Ergänzt und andeutungsweise geschützt wird das Ensemble durch einen weiteren "SHADE" (s.o.), diesmal mit unbemalten Glasscheiben. Die Situation kann in Anlehnung des zuvor beschriebenen Konfliktes vielleicht als ein Ausweg gelesen werden, als Modell für einen selbst zu realisierenden Raum, der einem Leben im Balanceakt zwischen persönlicher Utopie und bürgerlicher Realität zumindest die experimentelle Niesche bietet, die es braucht.

 

Anmerkungen:
01 |  Erschien erstmals im Neuen Wiener Tagblatt, 26. April 1900, Wien.
02 | Jan Verwoert: „Der weite Horizont des leisen Fluchens“ in Eine Person allein in einem Raum mit Coca-Cola farbenen Wänden, Grazer Kunstverein, Verlag Revolver, Frankfurt am Main, 2007.

 

Kurator / curator
Søren Grammel

 

REVIEW of the exhibition by Jennifer Daubenberger

‚Gedanken. Spiel.’

 

Eigenartig. Über eine Ausstellung zu schreiben, die man nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Ohne die Aura des Ausstellungsraumes gespürt zu haben, ohne in geringsten persönlichen Kontakt mit den Exponaten getreten zu sein. Von Kommunikation zwischen Werk und Rezipient, geistiger Interaktion, kann da keine Rede sein.

Stattdessen. Zehn Photographien der Ausstellung ‚DÖBLING REFORM: panier und biobourgeosie von __fabrics interseason’, die offizielle Ausstellungsbeschreibung des Kurators Søren Grammel, eine Kurzinfo der Kreativschaffenden – heruntergeladen von deren Homepage – ein DIN A4 Blatt mit ‚eventuell hilfreichen’ Begriffserklärungen und stichwortartigen Anmerkungen  zu ‚möglicherweise notwendiger’ Hintergrundinformation – selbst verfasst – und das eigene Ich. Zuhause, im Wohnzimmer, am Esstisch. Kurzes Sinnieren über den Heiligen Hieronymus in der Zelle. Eigenartig.

Ist das die neue Form Kunst zu erleben? Frei nach dem Motto, „Wohnst Du noch, oder lebst Du schon?“. Hol Dir das, was Du brauchst, direkt zu Dir nach haus.

Den Pizza Heim-Service gibt es schon lang, doch abgesehen davon hat man mittlerweile die Möglichkeit, sich fast alles direkt an die Wohnungstür, oder zumindest bis zur Bordsteinkante, liefern zu lassen – doch selbst hier lässt sich gegen einen gewissen Aufpreis Abhilfe schaffen.

Wäre das womöglich eine Marktlücke? Ein Ausstellungslieferservice? Auf Wunsch bestückt der Ausfahrer seinen kleinen Bauchladen mit Dreingaben aus dem Museumsshop: „Daubenberger. Guten Abend. Einmal ‚DÖBLING REFORM: panier und biobourgeoisie von __fabrics interseason’ mit allem, bitte…. Audioguide gibt es nicht? Schade. Wann? In dreißig bis fünfundvierzig Minuten?! Prima, Danke!“

Der Trend, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und den Fokus vermehrt auf das Private, die Familie und das eigene Zuhause, zu richten, ist schon seit längerem zu verspüren. ‚Cocooning’ ist das Schimpfwort. Evoziert von der Unpersönlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft. Die soziale Kälte drängt den Menschen zurück in seine eigenen vier Wände, lässt ihn sich zurückziehen in seinen Kokon. Zuhause darf er tun und lassen, was er will, darf er sein, wie er ist - menschlich - hier fühlt er sich geborgen.

Eben diesen Rückzugsort gilt es zu hegen und zu pflegen – stylische Mustertapete, individuelles Mobiliar und stimmige Wohnaccessoires.

Von außen mag man es einer uniformellen Wohneinheit nicht ansehen, dass sie in ihrem Inneren die unterschiedlichsten Persönlichkeiten verbirgt.   

„Zeig mir deine Wohnung und ich sage Dir, wer Du bist!

Blick auf die 10 Ausstellungsphotographien. Auffällig, MUSTERTAPETE (‚Paradies, schwarz’, ca. 1950 von Josef Frank)[1] (!) und die individuell gestalteten Spinde, die, der Natur zuwider, ihrem rudelhaften Vorkommen den Rücken gekehrt haben und frei im Raum stehen. Ein ungewohntes Bild in doppeltem Sinne. Kennt man Spinde aus dem Alltag weiß man, dass sie normalerweise gleichförmig und so unauffällig wie möglich in öffentlichen Institutionen, wie Schulen, Sportvereinen oder Fabriken, Platz sparend, an einer Wand entlang, aufgestellt sind.[2] Mit der Intention zu verbergen, statt preis zu geben. Diesem zum Trotz, hier nicht. In Material, Farbe, Innenausstattung und Platzierung unterscheiden sich die ausgestellten Spinde von ihren Artgenossen. Das Innere nach Außen gekehrt?

Wer schon einmal in den Genuss gekommen ist, einen Spind sein Eigen nennen zu können, vermag diesen Gedanken nachzuvollziehen. Postkarten, Zeitungsausschnitte, Fotos, Sticker, um nur einige Utensilien zu erwähnen, mit deren Hilfe man seinem Spind das gewisse Etwas verleihen kann. Es gilt, einem seelenlosen Gegenstand einen individuellen Stempel aufzudrücken. Etwas Privates in das öffentliche Leben zu überführen. Ein Grenzgang zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Aber warum? Um visuelle Bestätigung darin zu erlangen, in der großen, grauen Masse nicht unterzugehen? Quasi der rettende Strohhalm in dem Meer der Gleichförmigkeit?

Die ‚Schränke’, die in Zusammenarbeit von __fabrics interseason mit dem Architekten Robert Gassner[3] entstanden sind, sind stumme Mahnmale hinsichtlich der Zwiespältigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft im öffentlichen und privaten Leben. Einerseits individuell gestaltet und platziert, andererseits in normierten RAL-Farben gestrichen oder lackiert. Nichts Halbes und nichts Ganzes, weder Fisch noch Fleisch. Sozialschizophrenie.

Der Gedanke an Andreas Gurskys Photoarbeit ‚Hamm, Bergwerk Ost’ von 2008 flammt auf. Das Bild einer Waschkaue, dem Umkleideraum in einem Bergwerk, welches die an Stahlketten, an der Decke aufgehängte Kleidung der Bergarbeiter zeigt. Körperlose Hüllen, obgleich individuell, zu einer Masse verschmolzen.

Unterschiedliche Arbeiten, doch ähnliche Aussagen. Mit der Partizipation am öffentlichen Leben, verschwindet der Mensch als Charakter von der Bildfläche. Ganz gleich ob hinter der Tür eines Spindes, oder an der Decke aufgehängt.

Gegensätze. Der Boden. Auf selbigem wälzt sich, in behäbiger Manier, ein grau-braun-schwarz gestreiftes, monströses Exemplar aus der Gattung der Flickenteppiche von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum. Ein Blick in den Begleittext. ‚surface: tapisserie N°1, schwarz’, so der offizielle Name der Kreatur.

Ihre Existenz verdankt sie den Stoffresten, die als Abfallprodukt bei der textilen Produktion anfallen[4] – ein unabdingbarer Prozess im Bereich des Modedesigns und, neben den künstlerischen Aktionen, das zweite feste Standbein von __fabrics interseason. Ergo kann ‚surface. Tapisserie N°1, schwarz’ als gelungene Kreuzung zwischen Mode und Kunst angesehen werden. Gregor Mendel wäre stolz gewesen. Und welch glücklicher Umstand es wäre, einen solchen Zeitgenossen bei sich zuhause zu beherbergen; man könnte sich und die eigene Wohnung im Partnerlook anziehen  – ein belustigendes, ganz persönliches Geheimnis, das die Kleidung allein nie preisgeben würde. Bezüglich dessen eine verschwiegene Seele, andernfalls jedoch eine Tratschtante vor dem Herrn, die einem nur allzu gern die stilistischen Vorlieben ihres Trägers von der anderen Straßenseite entgegen ruft. Ehe man es sich versieht ist man auch schon in einer weitschweifigen Unterhaltung mit ihr verstrickt, und sie plappert munter drauf los, über den Beruf, Freizeit und Hobbies, mitunter sogar über sensiblere Themen wie beispielsweise den sozialen Stand.

Kleidung. Durch sie lässt sich die eigene Persönlichkeit in die Öffentlichkeit tragen, aber auch verbergen. Kein Medium, das direkter über seinen Träger eine Botschaft zu vermitteln weiß. ‚Kleider machen Leute’. Zumindest in den leeren Augen und der oberflächlichen Vorstellung  der Gesellschaft.             

Zwischenresümée: (Un-)Persönlichkeit. Oberfläche. Oberflächlichkeit. Wortspielereien mit Aspekten der Ausstellung und Charakterzügen unserer heutigen Zeit.

Dies wird ebenso in den weiteren Arbeiten ‚MODULE’ und ‚Shades’ thematisiert. Erstere, als Auftragsarbeiten angefertigt, ca. 120 cm hohe Bilderrahmen, an der Unterkante entlang der Wände montiert, die, in Madagaskar, handgewebte Raffia-Flächen in unterschiedlichen Farb- und Oberflächenbehandlungen enthalten; Letztere, selbst entworfene, so genannte ‚Raumverbesserungsmaßnahmen’, ca. 170 cm breite und 165 cm hohe Holz-Glas-Konstruktionen mit bunt bemalten Scheiben, frei im Raum aufgestellt.[5]

An dieser Stelle wird deutlich, dass die Idee des bereits erwähnten Ausstellungslieferservices noch einige Qualitätsmängel aufzuweisen hat, da die Vorstellung von einer handgewebten Raffia-Fläche die, hierfür durchaus benötigte, Phantasie an ihre Grenzen treibt. Eine Materialprobe könnte Abhilfe schaffen. Nur so als Idee.

Raumgestaltung. In Kontext zu den oben genannten Schlüsselbegriffen (Un-)Persönlichkeit  und Oberflächlichkeit gesetzt, scheint hier in erster Linie der private, in übertragenem Sinne aber auch der soziale Raum gemeint sein. Die Gestaltung des sozialen Raums - soll das ein Aufruf sein, dem Trend des ‚Cocooning’ entgegenzuwirken und die Erinnerung an den Mensch als Herdentier wieder aufleben zu lassen? Der ein reales, soziales Netzwerk braucht, um ‚richtig’ funktionieren zu können?

Weiterhin gilt: Aufgepasst vor sozialen Unterschieden! Die Gesellschaft ist auf dem besten Weg dahin, wieder in eine Klassengesellschaft abzurutschen, die von einer hochnäsigen ‚Biobourgeoisie’ angeführt wird. Diese vermag es wohl, sich selbst und ihren Kokon mit ausgewählten Designerstücken aufzurüschen, doch insgeheim leidet sie stark unter großen gesellschaftlichen Defiziten. Alarmsignal. Sollte man doch aus der Vergangenheit lernen – Marx lässt grüßen.

Dieses Postulat lässt sich mit der Definition des modernen Kulturbegriffs, nach Dirk Baecker, in Einklang bringen.[6] Baecker sieht die moderne Kultur wie folgt determiniert: Lebensformen, die in wechselseitigen Vergleich zueinander gesetzt werden, unter Berücksichtigung ihrer eigenen Historizität, der Evolution und der Weltgesellschaft, sowie der unbestimmten, äußeren Erscheinungsform, die sich aus der Summe der einzelnen Faktoren ergeben kann.[7] Frei übersetzt: ‚Mach was aus dem, was schon da war!’ So ließe sich darauf hoffen, dass die Menschheit den gleichen Fehler nicht zweimal begeht, dass Erfahrungswerte vor abermaliger Torheit schützen. Doch hat man etwas nicht selbst erlebt, ist es schwierig, wirklich einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen.

Nutzen ziehen. Aus der Erfahrung, eine Ausstellungsrezension geschrieben zu haben, ohne diese jemals vor eigenen Augen gehabt zu haben. Keine persönlichen Erinnerungen an das Geschehnis. Nichts, was der eigenen Erfahrung gemäß, verarbeitet werden kann. Stattdessen. Zehn Photographien, die offizielle Ausstellungsbeschreibung, eine Kurzinfo der Kreativschaffenden, etc.. Zuhause. Im Wohnzimmer. Am Esstisch. Praktisch. Einerseits.

Andererseits. Zweifel an der Beständigkeit der revolutionären Idee eines Frei-Haus-Lieferservices für Kunsthungrige.

Denn ein reichhaltiges Menü wie ‚DÖBLING REFORM: panier und biobourgeosie von __fabrics interseason’ sollte nicht in Fastfood-Manier geliefert und schon gar nicht genossen werden.

Als allgemeingültige Küchenregel darf formuliert werden: Kunst sollte, wenn möglich, heiß und frisch aufgetischt werden, abgestanden und aufgewärmt mag sie dem ein oder anderen schwer im Magen liegen. Doch ganz unter uns. Erfahrungsgemäß halten sich heutzutage die wenigsten daran. Mikrowellengeneration.

 


[1] Grammel, Søren: Zur Ausstellung ‚DÖBLING REFORM: panier und biobourgeoisie’ von __fabrics interseason (Wally Salner & Johannes Schweiger, Wien), Grazer Kunstverein, 2007. S. 2.

[2] Vgl. Ebd. S. 1.

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. Ebd. S.1f.

[5] Vgl. Ebd. S.2.

[6] Vgl. Baecker, Dirk: Zur Kontingenzkultur der Weltgeschichte. S.139-161. In: Baecker, Dirk / Kettner Matthias / Rustemeyer, Dirk (Hrsg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld. 2008. 

[7] Vgl. Ebd. S. 159.

 

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